Yoga ist politisch
November 2020 by Amuna
Viele fangen an Yoga zu praktizieren, um fitter zu werden, um sich zu entspannen, um sich etwas Gutes zu tun. Wir gehen ins Studio, nehmen auf unserer Matte Platz, die Stunde beginnt, wir üben verschiedene Haltungen, die Yogastunde ist zu Ende, wir gehen wieder nach Hause. Heute waren wir im Yoga, ein Punkt auf unserer To-Do Liste ist abgehakt. Doch Yoga endet nicht in Śavāsana. Ganz im Gegenteil. Die Körperhaltungen unterstützen uns dabei rauszugehen und Yoga im Alltag zu leben.
Yoga bedeutet Einheit, beziehungsweise das Ziel von Yoga ist Einheit und Erleuchtung. Es gibt verschiedene Yogawege, um dieses Ziel zu erreichen. Einer davon ist Rāja Yoga, das königliche Yoga. Dieser Weg basiert auf dem achtgliedrigen Pfad des indischen Philosophen Patañjali. Der dritte Punkt auf diesem Pfad ist Āsana, die Körperhaltungen, die wir in typischen Yogastunden üben. Doch der erste Punkt auf diesem Pfad ist Yama. Yamas sind Verhaltensregeln im Umgang mit anderen Lebewesen und der Umwelt. Das bedeutet, als aller erstes geht es darum, wie wir uns anderen gegenüber aktiv verhalten. Es geht also nicht in erster Linie um uns selbst. Yoga findet also nicht nur auf der eigenen Matte statt, sondern auch im Außen, im Alltag, im wahren Leben.
Der erste Punkt der Yamas, also die erste Verhaltensregel, ist Ahiṃsa. Ahiṃsa bedeutet Gewaltlosigkeit. Du wirst also dazu aufgefordert anderen Lebewesen und der Umwelt keinen Schaden zuzufügen. Weder in Gedanken, Worten, noch in Taten. Das beinhaltet auch gewaltlos einzugreifen, wenn du Gewalt in Worten und Taten – ausgeübt durch andere – beobachtest.
In der Yogaszene setzen sich viele für den Tier- und/oder Umweltschutz ein. Wir ernähren uns zum Beispiel vegetarisch oder vegan, transportieren unsere Einkäufe mit Jutebeuteln statt Plastiktüten und fliegen vielleicht nicht mehr von Frankfurt nach Berlin, sondern nehmen lieber den Zug. Anders ist es bei Rassismus und wenn es darum geht dieses Thema zu diskutieren und aktiv anzugehen. Viele sagen „Ich sehe keine Hautfarbe“, „Ich mache da keinen Unterschied“, „Für mich sind alle Menschen gleich“, „Wir sind alle eins“, „Ich verspüre da keinen Handlungsbedarf meinerseits, denn ich bin ja nicht rassistisch“, „Ich konzentriere mich lieber auf Positives, denn so ziehe ich Gutes an“. Vielleicht fragst du dich jetzt, wo hier das Problem liegt?
Wir leben in einer Welt, in der wir aufgrund unserer Hautfarbe, Geschlechts, Sexualität, Religion, Körperform und anderen Merkmalen, unterschiedlich behandelt werden. Wenn eine weiße Person und eine Schwarze Person nebeneinander in Stuttgart auf der Straße laufen, erleben sie im selben Moment unterschiedliche Realitäten, denn sie sind unterschiedlichen Vorurteilen ausgesetzt. Auf dem Instagram Account @wasihrnichtseht seht ihr die Erlebnisse, die People of Color machen. Eine weiße Person macht diese Erfahrungen nicht und das nur aufgrund der Hautfarbe. Indem du also sagst, du siehst keine Hautfarbe, verschließt du die Augen vor der Lebensrealität vieler Schwarzer Menschen. Du ignorierst so das Problem und förderst es sogar, da du nichts dagegen unternimmst. Indem du dich ausschließlich auf Positives fokussierst, umgehst du das Negative, schaffst es jedoch nicht aus der Welt. Dieses Verhalten wird Spiritual Bypassing genannt. Das fatale daran ist, dass so das Negative Raum bekommt und sich ausbreiten kann, da es nicht aufgehalten wird. Es ist also essenziell anzuerkennen, dass wir leider noch nicht alle gleich sind, und dass wir aktiv etwas unternehmen müssen, um irgendwann alle gleich zu sein. Und dass wir eben auch aktiv etwas tun müssen, um das Ziel von Yoga zu erreichen.
Yoga ist also politisch. Denn ein neutrales Verhalten würde bedeuten sich auf die Seite des Unterdrückers zu stellen. Ahiṃsa (Gewaltlosigkeit) wird nicht durch Neutralität, sondern durch spirituellen Aktivismus gelebt.
Wie können wir nun Yoga nutzen, um antirassistisch zu sein? Indem wir kraftvolle Āsanas, Körperhaltungen, üben, bauen wir nicht nur Muskeln auf, sondern stärken auch unseren Geist und unsere mentale Kraft, die wir brauchen, um aktiv zu sein. Durch das achtsame Üben der Asanas und das fokussierte Sitzen in Meditation, schaffen wir nicht nur Bewusstsein auf der Matte, sondern nehmen dieses Bewusstsein mit in den Alltag. Die eigenen Gedanken lernen wir so aufmerksam wahrzunehmen. Darüber hinaus nehmen wir auch unsere Umwelt bewusster wahr, wir erkennen Ungerechtigkeit schneller, können uns daraufhin tatkräftig einsetzen und Zivilcourage zeigen.
Indem wir üben unsere Herzen weit zu öffnen, entwickeln wir Mitgefühl allen Lebewesen gegenüber. Ob sie uns optisch ähnlich sind oder nicht. Ein kraftvolles Mantra, das uns dabei helfen kann ist Lokāḥ Samastāḥ Sukhino Bhavantu. Die Bedeutung dieses Mantras ist: Mögen alle Lebewesen glücklich und frei sein. Und mögen meine Gedanken, Worte und Taten in irgendeiner Form zum Glück und zur Freiheit aller Lebewesen beitragen. Ich möchte dich dazu ermutigen, dieses Mantra nicht nur in Yogastunden wahrzunehmen, sondern von der Matte mit in deinen Alltag zu nehmen und es zu leben, sodass wir irgendwann Einheit, das Ziel von Yoga, erreichen.